Sebastian

Mülheim ist für mich eine Mischung aus Berlin, Ruhrgebiet und Köln. Seit 12 Jahren bin ich
nun hier, damals war hier alles noch ein bisschen anders. Als evangelischer Pfarrer habe ich
das Veedel in dieser Zeit begleiten dürfen, und konzentriere mich vor allem darauf, wie die
Kirche relevant sein kann für die Menschen hier. Kirchen tendieren ja oft dazu, im eigenen
Saft zu schmoren.
Der Wandel in Mülheim wird von drei entscheidenden Faktoren beeinflusst: Einerseits merkt
man total, dass die türkische Community an Selbstbewusstsein gewonnen hat, aus der
Keupstraße rausgewachsen ist und sich auf die Frankfurter erweitert hat. Man merkt, dass
eine stärkere Integration stattgefunden hat, sodass die Kleinveedel im Stadtteil nach und
nach zusammenwachsen.

Andererseits finden hier durch das Schanzenviertel, das Schauspiel und die
runtergekommene Industrie als Nährboden für alternative Szenen schon starke
Gentrifizierungsprozesse statt – das finde ich aber nicht uneingeschränkt schlecht, denn
Mülheim braucht Aufmerksamkeit und die kommt durch Menschen, die diese
Aufmerksamkeit brauchen. Dann kommt es zum Beispiel zu Entwicklungen wie mit der
Stadthalle, wo auf einmal Erobique spielt, der vorher im Gloria war – das ist schon spannend.
Man muss nur aufpassen, dass man nicht die Menschen abhängt, die es sich nicht leisten
können, in der Bagatelle essen zu gehen.
Und drittens gibt es eine starke Politisierung des Viertels durch ein aktives und wokes Milieu.
Alle diese Faktoren sind wichtig, denn so ein Stadtteil muss sich weiterentwickeln, anders
geht es nicht.

Gestern Abend war ich beim Fastenbrechen, zu dem mich eine muslimische Gemeinschaft
hier eingeladen hat. Wir haben darüber gesprochen, wie wir noch stärker in Dialog treten
können und wo wir im Veedel vor gemeinschaftliche Herausforderungen gestellt werden.
Diese Möglichkeit zum Austausch nehme ich als Geschenk wahr – denn Mülheim ist, wie es
ist, und die Kirche muss schauen, dass sie für die Menschen hier bedeutsam bleibt und wie
sie deren spirituellen Bedürfnissen begegnet. Denn nur weil die Menschen aus der Kirche
austreten, heißt das nicht, dass sie nicht spirituell sind. Mit einer suchenden Haltung auf sie zuzugehen ist die Herausforderung, vor der wir als
Kirche stehen. Klar, vieles an der Kirche ist überholt, aber es gibt auch einiges, das viel geben
kann, wenn es uns gelingt, diese Relevanz zu vermitteln. Nehmen wir Ostern als Beispiel: Ein
hochrelevantes Fest, denn die Erfahrung des Scheiterns, der Lebensführung in Sackgassen,
und die des Neuanfangs und des An-die-Hand-genommen-werdens ist elementar und da
kann die Kirche durchaus anschlussfähig sein – sofern wir den Anspruch haben, Gottes
Spuren mit den Leuten gemeinsam zu entdecken. Sie können uns oft mehr über Gott sagen
als wir ihnen.
Ich sehe das auch im Zusammenhang zu den Entwicklungsprozessen in Mülheim: Weil man
nicht den Menschen traut, die sagen, ich habe alle Antworten für Mülheim, sondern denen,
die sagen, lass uns doch gemeinsam auf die Suche gehen. Und dann ist man zusammen auf
einem Weg, wo sich Dinge plötzlich klären und ergeben und der auch ganz praktische
Auswirkungen auf den Stadtteil haben kann.
Deswegen würde ich abschließend gern die Frage an die Leute da draußen stellen: Was
braucht ihr eigentlich für ‘ne Kirche? Was können wir tun, mit euch gemeinsam?

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