Serap Güler

Eigentlich bin ich ein Kind des Ruhrgebiets: Geboren und aufgewachsen in Marl, studiert habe ich in Essen, aber schon in der Schulzeit habe ich gesagt, wenn ich älter bin, will ich in Köln leben. Ich war als Kind schon ein paar Mal hier, und da sind nur positive Bilder hängengeblieben, der Dom, der Rhein und alles, was dazugehört. Dass ich dann tatsächlich hierhergekommen bin, hatte politische Gründe. Ich habe 2012 für den Landtag im Wahlkreis Köln-Mülheim kandidiert. Ich hatte die Wahl zwischen Köln und einer anderen Stadt, aber ich wusste sofort, wenn sich die Gelegenheit ergibt, dann will ich das hier machen. Seitdem bin ich hier und fühle mich sehr, sehr wohl. 

Ich habe Mülheim immer als bunt, vielfältig und lebendig wahrgenommen, aber auch als ein Veedel mit großen Herausforderungen. Einerseits sitzen wir jetzt in einem schönen Café in der Nähe vom Rhein, hier muss man schon fast über Gentrifizierung sprechen, wenn man Richtung Buchheim schaut – dort habe ich früher gelebt – oder auf die Berliner Straße, ist das wieder eine ganz andere Welt. Es ist ein sehr junges Veedel, aber natürlich gibt es Probleme wie die hohe Erwerbslosigkeit oder dass viele Kinder in Familien aufwachsen, in denen sie wenig Unterstützung bekommen. Deswegen habe ich mich auch beim Kolping Bildungswerk engagiert, als ich mitbekommen habe, dass Kolping auch hier in Mülheim aktiv ist.

Das ist ja ein Inklusionsbetrieb, das heißt er gibt einerseits Menschen mit Behinderung Struktur und die Möglichkeit, weniger abhängig zu sein, andererseits ist er auch eine Anlaufstelle für viele junge Menschen, die etwas orientierungslos sind und Hilfe dabei brauchen, eine Ausbildungsstelle zu finden. Ich habe damals dort Nachhilfeunterricht gegeben und habe so viele junge Menschen kennengelernt, die aus verschiedensten Gründen ihren Abschluss nicht geschafft haben, aber die Rohdiamanten waren, die ein bisschen Zeit brauchen, ein bisschen Aufmerksamkeit, jemanden, der sich mit ihnen beschäftigt. Diese Arbeit hat mir viel gegeben und war eine tolle Erfahrung für mich. 

Mit vielen Herausforderungen könnte schon in der Schulzeit besser umgegangen werden. Eigentlich müssten in diesen Stadtteilen das ganze System viel stärker aufgestellt werden. Dabei kommt es auch nicht darauf an, wie hoch der Anteil der Kinder mit Migrationsgeschichte ist. Es gibt Kinder mit Migrationsgeschichte, deren Eltern sind hier Ärztinnen oder Ärzte, die brauchen nicht so viel Unterstützung wie ein Kind, dessen Familie vielleicht sogar Fluchterfahrung hat und überhaupt gar kein Deutsch spricht. Genauso gibt es Kinder ohne Migrationsgeschichte, die Unterstützung brauchen. Um das zu schaffen, braucht es mehr Personal, und da sind wir beim Fachkräftemangel. Es ist schwierig, Menschen für den Lehrberuf zu begeistern, da die Anforderungen sehr hoch sind. Es ist politisch bisher leider nicht gelungen, einen vereinfachten Zugang zu ermöglichen, vor allem für Menschen, die beispielsweise erst seit 2015 hier sind. Wir brauchen diese Menschen aber, denn uns fehlen Lehrkräfte, und vieles wäre besser in Bahnen zu lenken, wenn es mehr Menschen gäbe, die diesen Job ausüben. 

Dann wiederum gibt es hier Probleme, die gar nicht auf der großen politischen Bühne gelöst werden müssen, beispielsweise die hohe Obdachlosigkeit. Es gibt hier viele gute Initiativen, die versuchen, Begegnung zu schaffen. Viele Menschen, habe ich in Gesprächen mit Betroffenen gemerkt, möchten gar nicht unbedingt von der Straße weg. Ein strukturiertes Leben, eine eigene Wohnung können für diese Menschen total überfordernd sein. Sie wünschen sich eher mehr Verständnis, mehr Vertrauen. Man muss irgendwie schaffen, dass die ältere Dame, die sich am Wiener Platz nicht sicher fühlt, einen anderen Blick auf die Lebenssituation dieser Menschen bekommt. Es muss auch ordnungspolitisch mehr durchgegriffen werden, aber das ist auch durch soziales Engagement machbar. Es geht in der Politik nicht darum, alle von einem Standpunkt zu überzeugen, sondern etwas näher aneinanderzurücken. Manchmal bleibt es auch bei unterschiedlichen Positionen. Aber solange man sie anständig und respektvoll vermitteln kann, ist das völlig in Ordnung. Andernfalls wäre die Welt, und auch Mülheim, einfach viel zu eintönig. 

Text: Jette Kötschau Interview: Michael Kötschau

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